10

Monica ließ sich Zeit im Badezimmer, sie brauchte die Privatsphäre, um wieder zu sich selbst zu finden. Für sie war die sexuelle Hingabe immer wieder beängstigend. Michael schien das nicht zu merken. Wenn er sich von ihr herabgleiten ließ, dann war er zufrieden und ein wenig ermattet. Jetzt hörte sie das unter seiner Bewegung knarrende Bett. Vermutlich drückte er gerade seine Zigarette aus. Er rauchte nicht viel und wollte eigentlich ganz damit aufhören, aber nach dem Sex konnte er einer Zigarette nur schwer widerstehen.

Heute hatte seine Hand beim Anzünden ein wenig gezittert, wodurch die kleine Flamme tänzelte. Diese verräterische Geste hatte sie innerlich schmelzen lassen, und sie blieb länger im Badezimmer als gewöhnlich, damit er es ihr nicht anmerkte. Es war schon schlimm genug, daß er wußte, wie verrückt sie wurde, wenn er in ihr war. Sie stöhnte und krallte sich mit feuchten Händen an ihn, während ihre Hüften rotierten. Wie sehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach nicht stillhalten. Und feucht war sie auch jedesmal. Sie erinnerte sich an die peinlich schmatzenden Geräusche, wenn er wieder und wieder in sie eindrang. Aber in jenen Augenblicken war es ihr überhaupt nicht peinlich. Dann war die Glut, die er in ihr entfachte, ihr einziger Gedanke. Im nachhinein jedoch empfand sie Scham.

Mit Alex war es allerdings ganz anders. Da fiel es ihr nicht schwer, sich ganz zurückzunehmen. Ihm schien das nur recht zu sein, und Monica wußte auch, warum. Denn Alex machte sich selbst vor, daß sie Noelle sei.

Eigentlich wollte sie nicht mit Alex schlafen, aber gleichzeitig wollte sie es auch wieder. Sie konnte wahrlich nicht behaupten, er nötigte sie, auch nicht, um ihr Gewissen zu erleichtern. Sie liebte Alex, allerdings mehr wie einen väterlichen Freund. Natürlich konnte er nicht den Platz ihres Vaters einnehmen, das konnte niemand. Aber er war Papas bester Freund gewesen. Auch er war tief verletzt gewesen, als ihr Vater einfach so verschwunden war. Ganz und gar selbstverständlich hatte er ihnen allen seine starke Schulter angeboten, an der sie sich anlehnen oder ausweinen konnten. In jenen schrecklichen ersten Tagen hatte sie manchmal so tun können, als sei er tatsächlich ihr Vater und alles sei so wie zuvor.

Lange aber konnte sie diesen Selbstbetrug nicht aufrechterhalten. Der entsetzliche Schrecken jenes Tages hatte unweigerlich etwas in ihr verändert. Sie hatte akzeptiert, daß nichts je wieder perfekt sein würde. Papa würde nicht zurückkommen. Er zog ein Leben mit dieser Hure einem Zusammenleben mit seiner Familie vor. Er liebte Mama nicht und hatte es auch niemals getan.

Alex jedoch liebte Mama. Armer Alex. Monica konnte nicht genau sagen, wann sie seine Gefühle zum ersten Mal erraten, wann sie seine Zuneigung und die Traurigkeit in seinen Augen entdeckt hatte. Es mußte so um die Zeit herum gewesen sein, als er Mama zum ersten Mal dazu überredet hatte, wieder mit ihnen zu Abend zu essen. Er besaß einen größeren Einfluß auf Mama als sie oder Gray. Vielleicht lag es ja an der sanften, hingebungsvollen Höflichkeit, mit der er sie behandelte. Papa hatte sich weiß Gott niemals auf diese Art und Weise ihr gegenüber verhalten. Er war zwar auch höflich und zärtlich gewesen, aber es war offensichtlich, daß er es nur der Form halber tat und sein Gefühl nicht aus der Tiefe her rührte. Alex dagegen nahm Noelle wirklich ernst.

Sie erinnerte sich an die erste Nacht mit ihm. Gray hatte geschäftlich in New Orleans zu tun. Mama war zum Abendessen nach unten gekommen, schien aber trotz Alex' Aufmunterungen trauriger als sonst. Es hatte sie bereits einige Überwin dung gekostet, auch nur mit ihnen zu speisen. Trotz seiner Bitten hatte sie sich direkt nach dem Essen in ihr Zimmer zurückgezogen. Als er sich zu Monica umdrehte und sie die Verzweiflung in seinen Augen sah, hatte sie ihn tröstend in den Arm genommen.

Es war eine ziemlich kalte Winternacht gewesen. Sie hatten sich ins Wohnzimmer ans Kaminfeuer gesetzt, und Monica hatte versucht, ihn aufzuheitern. Während Alex seinen Lieblingsbrandy trank, hatten sie auf dem Sofa vor dem Kamin über vieles geredet. Das Haus war ruhig, das Zimmer von lediglich einer Lampe schwach beleuchtet. Das Feuer war lautlos erloschen. Im Feuerschein mußte sie so ausgesehen haben wie Mama. Sie hatte an jenem Abend ihr dunkles Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Außerdem hatte sie sich schon immer in dem konservativen, klassischen Stil gekleidet, den auch Mama bevorzugte. Aus all diesen Gründen – der Brandy, die Einsamkeit, das dunkle Zimmer, seine eigene Enttäuschung, ihre Ähnlichkeit mit ihrer Mutter – war es dann passiert.

Hände hatten in ihren Haaren gewühlt, und er hatte gestöhnt. Monica erinnerte sich an ihre widerstreitenden Gefühle, ihre Angst wie auch ein fast schmerzhaftes Mitleid ihm gegenüber. Er hatte ihre Brüste gestreichelt, aber geradezu ehrfürchtig und ohne sie auszuziehen. Er hatte ihren Rock nur so weit wie unbedingt notwendig hochgeschoben, als ob er sie nicht unnötig beschämen wollte. Sie hatte eine verschwommene Erinnerung an das Gefühl nackter Haut, als er sich an sie gepreßt hatte, dann an einen stechenden Schmerz und die schnellen Stöße. Nicht verschwommen hingegen war die Erinnerung an seine Stimme, als er »Noelle« in ihr Ohr gemurmelt hatte.

Er schien gar nicht gemerkt zu haben, daß er der erste gewesen war. In seiner Vorstellung war sie Mama.

Und in ihrer Vorstellung, Gott möge ihr beistehen, war er Papa gewesen.

Es war alles so krank, daß sie sich immer noch vor sich selbst ekelte. Sie hatte niemals sexuelle Gefühle für ihren Vater gehegt, sie hatte überhaupt keinerlei sexuelle Gelüste gekannt, bis sie Michael begegnete. Aber in der verwirrenden Gefühlsvielfalt jener Nacht hatte sie geglaubt, daß er sie vielleicht nicht verlassen würde, wenn sie ihm das gäbe, was Mama ihm verwehrte. Sie hatte also den Platz ihrer Mutter eingenommen und sich als sexuelle Bestechung angeboten, damit ihr Vater zu Hause bliebe. Armer Alex, arme sie. Beide waren Ersatz für etwas, das keiner von beiden jemals besitzen konnte. Freud hätte sich ins Fäustchen gelacht. Aber die Nacht damals war die erste von vielen, die in den vergangenen sieben Jahren folgen sollten. Michael hatte sie vermutlich in nur einem einzigen Jahr öfter besessen als Alex in sieben. Alex hatte sich geschämt und sich inständig entschuldigt. Aber er war immer wieder zu ihr gekommen, in seiner Hilflosigkeit brauchte er die Vorstellung, daß Noelle in seinen Armen läge. Und Monica gab ihm, was er für diese Lebenslüge benötigte. Er kam jedoch niemals, wenn Gray zu Hause war, immer nur, wenn ihr Bruder geschäftlich außerhalb der Stadt unterwegs war.

Das letzte Mal war erst vor zwei Tagen gewesen, als Gray in New Orleans zu tun hatte. Sie war wie gewohnt am Abend in Alex' Büro gekommen, und er hatte sie auf dem Sofa genommen. Es dauerte nie sonderlich lange. Weder entkleidete er Monica noch sich selbst jemals ganz. Sieben Jahre schlief er schon mit ihr, und sie hatte ihn niemals nackt gesehen, sogar seinen Schwanz hatte sie nur sehr selten zu Gesicht bekommen. Er entschuldigte sich immer noch für seine Bedürfnisse, so als ob sie tatsächlich Mama sei. Die ganze Angelegenheit war ihm irgendwie unangenehm. Also brachte er die Sache immer so schnell wie möglich über die Bühne, danach wusch sich Monica und ging nach Hause.

Mit Michael war es ganz anders. Sie konnte immer noch nicht so recht sagen, was sie an ihm anzog oder wie es dazu gekommen war. Er war in Prescott aufgewachsen, sie hatte ihn also ihr ganzes Leben lang gekannt. Er war fünf Jahre älter als Gray und am Ende ihrer Schulzeit bereits der zweite Mann neben dem Sheriff gewesen. Er hatte seine Jugendliebe geheiratet und mit ihr zwei kleine Jungen bekommen. Sie waren wie Pech und Schwefel gewesen, ehe seine Frau ihn Knall auf Fall und aus heiterem Himmel verlassen hatte. Sie war noch Bogalusa gezogen, wo sie ein paar Jahre später wieder heiratete. Seine Söhne waren mittlerweile siebzehn und achtzehn Jahre alt, und er hatte ein gutes Verhältnis zu ihnen.

Michael hatte ein gutes Verhältnis zu allen, dachte sie und zog lächelnd ihre Mundwinkel hoch. Das war auch der Grund, warum man ihn vor drei Jahren, als Sheriff Deese in Rente gegangen war, zu dessen Nachfolger ernannt hatte. Er war ein wirklich netter Kerl, der die Uniform einem Anzug und ein paar ordentliche Stiefel gewöhnlichen Schuhen vorzog. Er war schlacksige einsneunzig groß, hatte sandfarbenes Haar, freundliche blaue Augen und jede Menge Sommersprossen auf seiner Nase.

Vor ungefähr einem Jahr war Monica zum Einkaufen in der Stadt gewesen und hatte in dem Grillrestaurant zu Mittag gegessen, in dem es die besten Hamburger in der Gegend gab. Mama wäre über ihren gewöhnlichen Geschmack entsetzt gewesen, aber Monica liebte Hamburger und gönnte sich gelegentlich einen. Sie hatte an einem kleinen Tisch gegessen, als Michael hereingekommen war und auf dem Weg zu seinem Tisch an ihrem plötzlich Halt gemacht und sie gefragt hatte, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Erstaunt hatte sie zugestimmt.

Anfangs hatte sie sich etwas verunsichert und steif benommen, aber Michael besaß die Begabung, die Stärke aus einem Hemd herauszukitzeln. Schon bald lachten und redeten sie, als ob sie alte Freunde wären. Als er sie zum Abendessen einlud, war ihr das einen Augenblick lang äußerst peinlich gewesen. Sie war sich nur zu bewußt, daß Mama das nicht gutheißen würde. Michael McFane strahlte so gar keine Vornehmheit aus. Dennoch hatte Monica eingewilligt. Zu ihrer Überraschung hatte er selber gekocht und Steaks in seinem Garten gegrillt. Er lebte jetzt auf der kleinen Farm, auf der er aufgewachsen war. Der nächste Nachbar wohnte erst in zwei Kilometer Entfernung. Monica fühlte sich in der ruhigen Einsamkeit seines ländlichen Zuhauses wohl.

Entspannt genug jedenfalls, um nach dem Essen zu Countrymusik aus dem Radio in seinem kleinen Wohnzimmer zu tanzen und sich dann von ihm ins Schlafzimmer führen zu lassen. Sie hatte nicht vorgehabt, das zuzulassen, hatte noch nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung gezogen. Aber er hatte auf eine beharrliche und langsame Art sie zu küssen begonnen. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie, wie Leidenschaft ihren Körper ergriff. Sie war über die Schnelligkeit all dessen bestürzt gewesen, hatte ihn aber doch ihr Kleid und kurz darauf ihren BH öffnen lassen. Niemand hatte jemals ihre nackten Brüste gesehen. Michael jedoch sah sie nicht nur, er küßte sie und saugte an ihnen. Die saugende Kraft seiner Lippen hatte sie so erregt, daß sie mit ihm auf sein Bett sank. Bald waren sie auf dem Baumwollaken vollkommen nackt und ineinander verschlungen. Ihre unterdrückte Leidenschaft explodierte zu einem Verlangen, das ihr noch heute Angst einjagte.

Eine Dame würde sich niemals so benehmen. Monica aber hatte schon immer gewußt, daß sie keine Dame war. Mama war eine Dame, und Monica hatte ihr ganzes Leben lang versucht, so zu sein wie Mama, damit Mama sie liebte. Dennoch war sie gescheitert. Mama wäre entsetzt und angeekelt, wenn sie wüßte, daß ihre Tochter mehrere Stunden in der Woche im Bett von Michael McFane – dem Sheriff zu allem Überfluß – wie ein Karnickel vögelte.

Manchmal war Monica die Strenge zuwider, mit der sie von Kindesbeinen an erzogen worden war. Gray dagegen war nicht durch all die Vorschriften eingeengt worden, was eine Dame zu tun und zu lassen habe. Mama schien Gray von Geburt an für einen hoffnungslosen Fall gehalten zu haben. Er war ein Mann, und deshalb erwartete sie von ihm nicht mehr als ein rein tierisches Verhalten. Weil sie selbst jedoch eine Dame war, hatte sie die sexuellen Eskapaden des Vaters wie des Sohnes ignoriert. Solche Dinge waren ihr vollkommen gleichgültig, und sie erwartete, daß sie ihre Tochter ebenso gleichgültig ließen.

Leider waren ihre Erwartungen nicht erfüllt worden, obwohl Monica sich in den ersten fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens wirklich Mühe gegeben hatte. Sogar als Mama sich nach dem Fortgang ihres Vaters vollkommen zurückzog, hatte Monica noch gehofft, wenn sie nur wirklich gut genug sei, dann würde Mama Guys Verschwinden nicht so zusetzen.

Dennoch hatte sie sich immer schon nach mehr gesehnt. Mama war so reserviert und kühl, so perfekt und unnahbar. Papa dagegen war warm und liebevoll gewesen, er hatte sie umarmt und sich mit ihr gebalgt, obwohl Mama derartiges Verhalten gegenüber einer Tochter für unangemessen hielt. Gray war sogar noch körperlicher als sein Vater. Schon von Kind an hatte Monica das in ihm lodernde Feuer erkannt.

Sie erinnerte sich an ein Mal, als Gray in den Ferien zu Hause zu Besuch gewesen war. Sie hatten alle um den Tisch herum gesessen und geredet. Gray hatte mit der Grazie einer Großkatze in seinem Stuhl gehangen und über einen Streich gelacht, den einige Spieler ihrem Trainer gespielt hatten. Er hatte damals eine Art Ursinnlichkeit verströmt, die sie gar nicht richtig in Worte fassen konnte, eine Wildheit steckte in der Art, wie er seinen Kopf neigte, in der Art, wie er sein Glas anhob. Sie hatte Mama angesehen, deren Gesicht nichts als Ekel widerspiegelte, so als ob Gray ein widerliches Tier sei. Er war ja auch ein Tier gewesen, ein gesunder, rangelnder Teenager, der vor männlichen Hormonen nur so strotzte. Aber Monica fand nichts Ekelhaftes an ihm, und sie hatte die Abneigung ihrer Mutter verurteilt.

Gray war ein wunderbarer Bruder. Sie hätte gar nicht gewußt, was sie während jener schrecklichen Zeit nach Papas Verschwinden ohne ihn hätte machen sollen. Sie hatte sich wegen ihres Selbstmordversuchs so geschämt, daß sie sich selbst schwor, nie wieder so schwach zu sein und Gray nie wieder so etwas zuzumuten. Es war schwer für sie gewesen, aber sie blieb ihrem Schwur treu. Sie mußte nur die dünnen, silbrigen Narben an ihren Handgelenken betrachten, um sie an den Preis jener Schwäche zu erinnern.

Faith Devlin jedoch vor dem Lebensmittelladen wiederzusehen hatte sie vollständig geschockt. Nach langer, langer Zeit war sie in die alte Gewohnheit zurückgefallen, mit ihren Schwierigkeiten zu Gray zu rennen und zu erwarten, daß er sie für sie löste. Sie schämte sich für die Art, wie sie sich hatte gehenlassen. Aber als sie das dunkle, fast schon weinrote Haar Faith Devlins sah, hatte ihr Herz beinahe ausgesetzt. Für einen verrückten, schwindelerregenden Augenblick hatte sie geglaubt, daß Papa zurück sei. Denn wenn Renee wieder da war, dann war natürlich auch Papa zurückgekehrt.

Aber sie hatte Papa weit und breit nicht entdecken können. Nur Renee war wieder da und sah ungerechterweise noch jünger aus als damals. Jemand so Gemeines und Niedriges wie Renee hätte ihre Sünden für alle sichtbar im Gesicht tragen müssen. Das Gesicht aber, das Monica angestarrt hatte, hatte denselben wunderbar faltenlosen Teint wie immer. Dieselben schläfrigen grünen Augen, den breiten, weichen, sinnlichen Mund. Nichts hatte sich verändert. Für kurze Zeit war Monica wieder in die Rolle des hilflosen kleinen Mädchens zurückgefallen und zu Gray gelaufen.

Nur daß es nicht Renee gewesen war. Die Frau auf dem Parkplatz war Faith Devlin gewesen. Gray hatte sich merkwürdig unwillig gezeigt, sein ganzes Gewicht gegen sie zum Tragen zu bringen. Monica konnte sich nur verschwommen an Faith erinnern, ein dürres, unscheinbares kleines Mädchen mit dem Haarschopf ihrer Mutter. Nicht im geringsten verschwommen jedoch war der Schmerz bei ihrem Wiedersehen, die Flut der Erinnerungen, das alte Gefühl des Betrugs und der Verlassenheit. Seitdem war sie vor Besuchen in der Stadt zurückgeschreckt. Sie hatte Angst, Faith Devlin erneut zu begegnen. Sie hatte Angst davor, daß Faith ihr Salz in die Wunden streuen würde.

»Monica?« hörte sie Michaels träge Stimme. »Bist du dort drin eingeschlafen, Liebling?«

»Nein, ich mache mich nur schnell fertig«, rief Monica und ließ das Wasser laufen, um ihre Schwindelei zu untermauern. Sie blickte auf ihr Spiegelbild. Nicht schlecht für zweiunddreißig. Glattes, dunkles Haar, nicht ganz so schwarz wie Grays, aber ohne ein einziges weißes Haar. Ihr Gesicht war feinknochig wie das ihrer Mutter, aber sie besaß die dunklen Augen der Rouillards. Sie wog kein Gramm zuviel, und ihre Brüste waren fest.

Als sie aus dem Bad trat, lag Michael noch immer splitternackt auf dem Bett. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er seinen Arm nach ihr ausstreckte. »Komm her zu mir«, lockte er. Ihr Herz machte einen Satz. Sie kroch wieder in das Bett zurück und genoß die Zärtlichkeit seiner Umarmung. Er seufzte zufrieden und drückte sie an sich, seine große Hand berührte ihren schönen Busen. »Ich finde, wir sollten heiraten«, sagte er.

Nicht nur machte ihr Herz einen Satz, es hörte auch beinahe auf zu schlagen. Ihre runden Augen starrten ihn sowohl panisch als auch erstaunt an. »H-heiraten?« stammelte sie. Dann schlug sie beide Hände vor den Mund, um ein hysterisches aufsteigendes Kichern zu unterdrücken. »Michael und Monica McFane?« Jetzt mußte sie doch kichern.

Er grinste. »Hört sich an, als ob wir Zwillinge wären. Aber wenn du damit leben kannst, dann macht es mir auch nichts aus.« Er zwirbelte ihre Knospe mit dem Daumen und freute sich über die Reaktion seiner Berührung. »Wenn wir ein Kind haben, dann soll es heißen, wie es will, nur mit 'M' darf sein Name nicht beginnen.«

Ehe. Kinder. 0 Gott. Sie hatte nie daran gedacht, daß er sie vielleicht heiraten wollte. Auch für sich selbst hatte sie sich eine Ehe nicht vorstellen können. Vor zwölf Jahren war ihr Leben vollkommen eingefroren, und sie erwartete einfach nicht mehr, daß sich das ändern würde. Aber nichts im Leben ist statisch. Sogar ein Stein verändert mit der Zeit seine Form. Alex hatte den gleichmäßigen Rhythmus ihres Lebens nicht gestört, Michael aber war wie ein Komet darin gelandet.

Alex. O Gott.

»Ich weiß, daß ich dir nicht allzuviel zu bieten habe«, sagte Michael. »Dieses Haus ist sicherlich nicht das, was du gewöhnt bist. Aber ich werde alles nach deinem Geschmack renovieren. Du brauchst mir nur zu sagen, wie du es haben willst, und ich werde es so machen.«

Ein weiterer Schock. Sie hatte ihre gesamten zweiunddreißig Jahre in ihrem Elternhaus gelebt. Sie versuchte sich einen anderen Wohnsitz vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Vor zwölf Jahren waren die Grundfesten ihres Lebens zusammengebrochen. Seitdem hatte sie auf irgendwelche Änderungen, schon etwas so Lapidares wie den Kauf eines neuen Autos, mit Panik reagiert. Gray hatte sie schließlich gezwungen, das alte Auto aufzugeben, das sie seit ihrem neunzehnten Lebensjahr fuhr. Ebenso hatte er sie auch vor fünf Jahren gezwungen, ihr Zimmer zu renovieren. Seit Jahren schon war ihr das Kleinmädchen-Dekor auf die Nerven gegangen, aber den Gedanken, es zu verändern, empfand sie als noch unerträglicher. Es war ein Segen gewesen, daß Gray eines Tages, während sie beim Zahnarzt war, einen Handwerker mitgebracht hatte. Als sie wieder nach Hause kam, war die Tapete bereits abgezogen und der Teppichboden herausgerissen. Dennoch hatte sie drei Tage lang darüber Tränen vergossen. So wenig von ihrem früheren Leben war nach Papas Fortgang unverändert geblieben, daß es schmerzte, etwas davon aufzugeben. Nachdem die Tränen versiegt und das neue Zimmer fertiggestellt war, hatte sie es geliebt. Es war lediglich der Übergang, der ihr so weh tat.

»Liebling?« fragte Michael, jetzt mit zögernder Stimme. »Tut mir leid, ich dachte nur ...«

Sie legte ihre Hand auf seinen Mund. »Wage es nur nicht, dich mir gegenüber kleinzumachen«, sagte sie. Ein tiefer, heftiger Schmerz durchfuhr sie, daß er auch nur einen Augenblick lang denken konnte, sie würde sich als zu gut für ihn empfinden. Das Gegenteil war der Fall. Erst vor zwei Tagen hatte sie auf dem Sofa in Alex' Büro gelegen und sich von ihm vögeln lassen. Ein häßliches Wort, eine häßliche Sache. Es hatte nichts gemein mit der körperlichen Liebe mit Michael. Wenn es vorüber war, spürte sie nichts außer vielleicht etwas Mitleid und Erleichterung.

Wenn Michael von Alex erfuhr, dann würde er sie gar nicht mehr heiraten wollen. Wie sollte er auch? Das ganze vergangene Jahr über hatte er geglaubt, daß sie ihm allein gehörte, während sie in dieser Zeit einem alten Freund der Familie den Geschlechtsverkehr mit sich gestattet hatte.

Alex gegenüber hatte sie nicht die geringsten Schuldgefühle gehegt, als Michael ihr Geliebter geworden war. Sie fühlte sich nicht mit Alex verbunden, wie auch? Eigentlich vögelte er ja noch nicht einmal sie, sondern ihre Mutter. Wenn sie jedoch zu Alex ging, so empfand sie tiefe Scham darüber, daß sie Michael betrog. Sie sollte Alex sagen, daß all dies ein Ende haben mußte. Aber die Angst saß immer noch tief in ihr vergraben. Wenn sie ihn nicht mehr an sich heranließ, würde er dann gehen? Und wenn er es täte, wäre das überhaupt schlimm? Sie war nicht mehr das verletzte, verwirrte kleine Mädchen, sie brauchte keinen Papa mehr – oder gar dessen Ersatz.

Aber was würde aus Mama werden, wenn Alex nicht mehr zu ihnen ins Haus kam? Er liebte sie. Wie sollte er den Anblick Noelles ertragen, die niemals für ihn erreichbar sein würde, wenn er nicht sich selbst einreden konnte, daß er sie körperlich besaß.

»Ich liebe dich«, sagte sie jetzt, an Michael gewandt, während eine Träne ihre Wange herabrollte. »Ich habe nur nicht geglaubt, daß du mich heiraten würdest.«

»Du dummes Ding.« Er wischte die Tränen von ihren Wangen. Ein schiefes Lächeln erschien auf seinem Lausbubengesicht. »Ich habe nur ein ganzes Jahr gebraucht, um den Mut dazu aufzubringen.«

Sie brachte ein Lächeln zustande. »Ich hoffe, daß ich nicht so lange brauchen werde, um den Mut zu einem Ja zu haben.«

»So viel Angst, ja?« fragte er und lachte.

»Jede ... jede Veränderung ist nicht leicht für mich.« Sie schluckte bei dem beängstigenden Gedanken daran, wie sie Mama von Michael erzählen würde. Gray wußte natürlich Bescheid, es war schließlich kein Geheimnis, daß sie sich sahen. Aber niemand ahnte, daß sie bereits seit einem Jahr miteinander schliefen. Da Mama aber nie in die Stadt ging und dort auch keine Freunde mehr hatte, war sie nicht auf dem aktuellen Stand. Sie sähe es aus zweierlei Gründen nicht gern. Erstens sähe sie Monica nicht gerne verheiratet, ganz gleich, mit wem. Denn das würde bedeuten, daß ihre jungfräuliche Tochter den ekelerregenden Berührungen eines Mannes preisgegeben wäre. Und zweitens würde sie es überhaupt nicht schätzen, wenn dieser Mann Michael McFane wäre. Die McFanes waren immer schon arme Bauern gewesen und bewegten sich nicht im entferntesten auf der gesellschaftlichen Ebene der Graysons und der Rouillards. Die Tatsache, daß Michael zum Sheriff ernannt worden war, würde ihn in ihren Augen kein bißchen besser machen. Er war nur ein kleiner Angestellter des öffentlichen Dienstes, der ein nettes, aber doch in keiner Weise bemerkenswertes Gehalt verdiente.

Und mit Alex würde sie auch sprechen müssen.

»Das wird alles werden«, beruhigte sie Michael. »Ich fange mit dem Haus schon einmal an. So in ungefähr sechs Monaten sollte ich damit fertig sein. Das gibt dir doch ausreichend Zeit, um dich mit dem Gedanken anzufreunden?«

Sie blickte in sein liebenswertes Gesicht und antwortete: »Ja.« Ja zu allem. Ihr Herz schlug wie wild. Sie würde es schaffen. Sie würde es Mama erzählen und ihrer eisigen Verachtung standhalten. Sie würde Alex sagen, daß sie ihn nicht mehr treffen konnte. Es würde ihm weh tun, aber er würde Verständnis für sie aufbringen. Mama würde er nicht im. Stich lassen, es war albern von ihr, so etwas überhaupt auch nur zu denken. Sie mußte die Dinge aus dem Blickwinkel einer erwachsenen Frau und nicht aus dem eines ängstlichen Mädchens betrachten. Alex war nicht deshalb ein Freund geblieben, weil sie ihm den Sex mit ihr erlaubt hatte. Er war Grays gesetzlicher Vertreter und bereits zu Zeiten ein Freund gewesen, als sie noch nicht einmal geboren war. Das ganze war für ihn vermutlich nur noch eine Gewohnheit. Vielleicht wäre er sogar für jede Ausrede dankbar, um die Sache zu beenden. Vielleicht hatte er ja genauso viele Schuldgefühle wie sie.

Sie mußte alles so gut wie nur irgend möglich machen. Nichts, aber auch gar nichts durfte schiefgehen. Ein normales, glückliches Leben schaukelte wie die sprichwörtliche Karotte vor ihrem geistigen Auge. Und sie konnte sie bekommen, wenn sie nur alles richtig machte. Letztes Mal hatte Renee Devlin ihren Traum zerstört ...

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen. Selbst in Michaels Umarmung tauchte das Gesicht vor ihrem inneren Auge auf: schläfrige grüne Augen und ein sinnlicher Mund, der die Männer verrückt machte. Renee war in der Gestalt ihrer Tochter immer noch gegenwärtig.

Faith mußte gehen. Mama würde viel glücklicher sein, wenn Faith die Stadt verließe. Und wenn Michael .. .

Sie stemmte sich gegen seine nackten Schulten. »Ein Problem gibt es allerdings.« Er ließ sie los und seufzte enttäuscht. Der Grund seiner Enttäuschung zuckte zwischen seinen Beinen. »Welches denn?«

»Mama.«

Er seufzte erneut. »Du glaubst, daß sie einer Heirat mit mir nicht positiv gegenübersteht?«

»Weder mit dir noch mit irgend jemandem sonst«, erwiderte Monica ohne Umschweife. »Du weißt nicht ... es wird sie so erschüttern.«

Er blickte sie überrascht an. »Aber warum denn, um Himmels willen?«

Monica biß sich auf die Lippe. Öffentlich die dreckige Wäsche ihrer Familie zu waschen mißfiel ihr. »Weil das bedeutet, daß ich mit dir schlafe.«

»Aber warum solltest du auch nicht ... ach so.« Er sah sie unsicher an. Vermutlich erinnerte er sich an all den Klatsch über das Arrangement, das Noelle und Guy gehabt hatten. »Sie mag solche Dinge wohl nicht sonderlich.«

»Allein der Gedanke ist ihr bereits verhaßt. Und da jetzt Faith Devlin wieder in der Stadt ist, ist sie ohnehin beunruhigt.« Vorsichtig stieß ihn Monica in die von ihr gewünschte Richtung. »Wenn Faith nicht mehr hier wäre, würde Mama in wesentlich besserer Stimmung sein. Ich weiß nur nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Gray versuchte, sie zum Gehen zu bewegen. Aber er behauptet, er könne nicht viel ausrichten. Jedenfalls nicht soviel wie damals.«

Zu ihrer Überraschung wurde Michael ganz still. Ein grimmiger Ausdruck legte sich über sein Gesicht.

»Ich kann Grays Gefühle gut nachvollziehen«, erwiderte Michael. »Ich würde auch nicht gerne etwas unternehmen, um das Mädchen nochmals aus ihrem Haus zu vertreiben.«

Monica zuckte zurück. Sie war erschrocken darüber, daß er genau entgegengesetzt reagierte, als sie es erwartet hatte. Sie hatte mit seinem Verständnis gerechnet. »Sie ist eine Devlin! Ich ertrage es kaum, sie anzusehen, ohne daß mir schlecht wird.«

»Sie hat aber gar nichts getan«, verwies sie Michael in so vernünftigem Tonfall, daß es sie nervös machte. »Wir hatten jede Menge Ärger mit den anderen Devlins, aber mit ihr nicht.«

»Sie sieht genauso aus wie ihre Mutter. Mama hätte fast die Nerven verloren, als sie erfuhr, daß eine von ihnen wieder in die Stadt zurückgezogen ist.«

»Es gibt kein Gesetz, das ihr verbietet, dort zu leben, wo sie leben möchte.«

Da er offenbar ihren Standpunkt nicht begreifen konnte, wurde Monica jetzt ganz deutlich. »Du könntest doch etwas in dieser Sache unternehmen, oder nicht? Gray tut nicht gerade viel. Aber du könntest doch einen Weg finden, der sie zum Umziehen bewegen würde.«

Doch Michael schüttelte den Kopf. Ihr Magen krampfte sich enttäuscht zusammen. »Ich war beim letzten Mal dabei«, sagte er aufgeräumt, und seine blauen Augen verdunkelten sich. »Als wir ihre Familie aus dieser Baracke geschmissen haben, in der sie damals wohnten. Der Rest der Familie war mir egal, es war sogar gut, sie alle loszuwerden. Aber Faith und der kleine Junge haben beide sehr gelitten. Ich werde niemals ihren Gesichtsausdruck vergessen. Und ich wette, daß es Gray nicht anders ergeht. Das ist vermutlich auch der Grund, warum er sie diesmal nicht so hart angeht. Der Himmel weiß, daß ich ihr so etwas nicht ein zweites Mal antun könnte.«

»Aber wenn Mama ...« Monica bremste sich. Er würde es nicht tun. Er konnte es einfach nicht begreifen, weil er nicht mit Mama zusammenlebte und nicht wußte, wie deren eiskalte Ablehnung einen bis ins Mark traf. Sie unterdrückte ihre Ungeduld und lächelte ihn an. »Laß nur, ich werde es Mama schon irgendwie beibringen.«

Aber wie? Sie hatte es noch nie geschafft, Mama im Zaum zu halten. Sie konnte diese schmerzhaften Dinge nicht einfach so abschütteln, wie es Gray zu tun pflegte. Gray liebte Mama, das war ihr klar, aber er nahm sie in vielerlei Hinsicht gar nicht ernst. Monica dagegen fühlte sich immer noch wie ein ängstliches kleines Mädchen, das verzweifelt versuchte, den Vorstellungen seiner Mutter zu entsprechen. Und genau das niemals wirklich schaffte.

Sie würde die Sache selber in die Hand nehmen. Sie durfte Michael nicht verlieren. Sie würde Alex sagen, daß sie sich nicht mehr mit ihm treffen konnte. Und irgendwie – irgendwie – würde sie Faith Devlin loswerden. Das würde Mama so glücklich machen, daß sie gar nichts mehr dagegen hätte, wenn Monica heiratete.